Ein Jahr Leben mit Leukämie

Rückblick 

 

31. Oktober 2017. Halloween.

Ich hatte mein Kostüm rausgesucht, der Wein lag im Kühlschrank, die Verabredung stand. 

Tagsüber wollte ich nochmal bei meiner Mutter vorbeischauen.

Ich wachte am Morgen des 31.10. auf und merkte, dass die Schmerzen in den Rippen, die ich seit einigen Wochen hatte so schlimm geworden waren, dass ich nicht mal mehr richtig laufen konnte. 

Also rief ich meine Mutter an. Denn nicht mal ein Gaspedal konnte ich benutzen und somit war es ein Ding der Unmöglichkeit, sie mit dem Auto zu besuchen.

Am Telefon sagte sie mir, dass sie nach Mainz kommen würde und wir gemeinsam in die Notaufnahme fahren würden.

"Man ist das übertrieben." dachte ich in diesem Moment.

Ich ließ meinen Hund kurzerhand von einem Freund abholen und verabschiedete mich nicht mal lange von der kleinen Maus, denn ich war vollkommen davon überzeugt, am Abend zurück zu sein.

Meine Mutter und mein Stiefvater holten mich ab und fuhren mit mir in die Klinik.

Die Rippe wurde untersucht, es konnte aber keinerlei Verletzung festgestellt werden. Etliche Tests folgten und irgendwann entnahm man mir Blut. Wir warteten und warteten, bis die Ärzte meine Familie heimschickte und mich über Nacht da behielten.  

Es war Nacht geworden und meine Familie lag bereits im Bett, als eine Ärztin ins Zimmer kam, die Tür schließ und mir mit traurigem Gesicht die wohl schlimmste Frage in meinem bisherigen Leben stellte:

"Können Sie mit dem Begriff Leukämie etwas anfangen?"

In dieser Sekunde zerbrach meine gesamte Welt. Natürlich wusste ich was eine Leukämie ist. Aber warum fragte sie mich das? 

Ich versuchte mich zu beruhigen und brachte nur ein leises "Ja, ich weiß was das ist." hervor. 

"Also es ist noch zu früh, um sicher zu sagen ob es sich um eine Leukämie handelt oder nicht. Aber Ihre Blutwerte sind für eine junge Frau in Ihrem Alter ungewöhnlich schlecht. Gibt es denn Blutkrankheiten in Ihrer Familie?" fragte mich die Ärztin. 

Mir war schlecht. Hätte ich nicht bereits gelegen, so wäre ich in genau diesem Moment ohnmächtig geworden. Ich hatte das Gefühl in einem Albtraum zu sein.

Irgendwas in mir war sich sicher: "Die täuschen sich. Das kann kein Krebs sein. Das muss irgendwas anderes sein." 

Die Ärztin erzählte noch einige Dinge mehr, aber ich kann mich an kein einziges Wort davon mehr erinnern. Ich war wie in Trance.

Als sie das Zimmer verließ rief ich sofort meine Mutter an und riss sie mit meinem Anruf aus dem Schlaf. Voller Tränen schluchzte ich in den Hörer, dass es Krebs sein könnte. 

 

Am nächsten Morgen kam meine Familie in die Klinik zu mir. Ein weiterer Arzt sprach davon, dass man noch gar keine Diagnose feststellen könne, ein anderer sagte, dass das Blutbild absolut typisch für Blutkrebs sei. 

Ich wurde in die Uniklinik verlegt und nach diversen Tests stand endgültig fest: Ich, Gesa, 24 Jahre jung war an akuter lymphatischer Leukämie erkrankt und sollte die kommenden Wochen und Monate stationär im Krankenhaus verbringen.

Nach ein paar weiteren Untersuchungen wurde außerdem noch das sogenannte Philadelphia-Chromosom entdeckt, das durch die vorangeschrittene Leukämie ausgelöst wurde und nur mit Hilfe einer Stammzelltransplantation geheilt werden könne. 

Ich traute mich nicht nach meinen Überlebenschancen zu fragen. Der erste Rat den der Arzt ständig wie ein Mantra wiederholte, lautete:

"Tun Sie sich selbst den Gefallen und googeln Sie nichts, was mit Ihrer Krankheit zu tun hat. Es würde Sie nur verrückt machen. Und im Internet stehen viele Fehlinformationen."

Ab dann ging alles sehr schnell. Binnen einer Woche hatte ich jede Menge Voruntersuchungen, eine Beratung im Kinderwunschzentrum- die eine absolute Katastrophe war- und meine allererste Chemo. 

In der Zwischenzeit musste ich erst mal lernen, dass Chemotherapie und Bestrahlung nicht das selbe waren, mein Leben in nächster Zeit komplett im Krankenhaus stattfinden würde und ich meinen 25, geschweige denn 26. Geburtstag vielleicht nie erleben dürfte.  

 

Die folgenden Monate verbrachte ich im Krankenhaus. Ich gehe hier jetzt nicht nochmal genauer darauf ein. 

Mein Körper wurde ständig schwächer, mein Kampfgeist dagegen täglich stärker. 

Ich erhielt jede Menge Unterstützung von Verwandten, Freunden, Pflegern und auch Menschen, die ich nicht einmal kannte. 

 

Am 13. März fand meine Stammzelltransplantation statt. Da mein Bruder leider "nur" zu 80% mit mir übereinstimmte, wählte man einen Fremdspender für die Stammzellen aus. 

Vorab wurde ich am gesamten Körper in Hochdosis bestrahlt und bekam jede Menge Hochdosis-Chemo. Mein ganzes System wurde so geschwächt und zerstört, dass es mir täglich schlechter ging. 

Ich nahm so ziemlich das gesamte Nebenwirkungsprofil mit, angefangen mit Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen, Ausschlägen, Einblutungen, Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Fieber, Pilzen auf Speiseröhre und im Magen und, was am schlimmsten war, einer Mukositis (Schleimhautentzündung) im härtesten Schweregrad, die unfassbare Schmerzen hervorrief. 

Konsequenz: Essen wurde eine Sache der Unmöglichkeit, ich konnte sage und schreibe 20 (!) Nächte nicht schlafen! (Und mit nicht schlafen meine ich wirklich nicht länger als 5 min.) Sprechen funktionierte nicht mehr und von Tag zu Tag schwindeten die letzten Kräfte endgültig. 

An meinen schlimmsten Tagen kämpfte ich mit Atemnot und merkte, dass die letzten eisernen Reserven in meinem Körper aufgebraucht waren. Wir waren uns alle nicht sicher, ob ich überleben würde. Und ab einem bestimmten Punkt wünschte ich mir sogar, endlich sterben und die Qualen hinter mir lassen zu können. Doch es kam anders. 

Nach ein paar Tagen ging es dann endlich bergauf. Ich erholte mich nur sehr langsam, aber immerhin konnten wir alle wieder neuen Mut und Kraft tanken. 

Nach insgesamt 5 Wochen Aufenthalt wurde ich nach Hause entlassen.

Anfangs konnte ich nicht mehr als 5 m laufen und verbrachte mein Leben über Wochen auf dem Sofa. Es war mir nicht möglich mehr als eine Handvoll Essen aufzunehmen. 

Doch die Kraft und der Glaube meiner Liebsten an mich bestärkte mich jeden Tag aufs neue und auch wenn ich es manchmal gar nicht glauben konnte, so ging es mir jeden Tag ein Stückchen besser. 

 

Nach einigen kleineren Abstoßungen (z.B. über die Haut in Form eines Ausschlags) ging es mir im Mai wieder schlechter. Ich erbrach wieder täglich, war schwächer und hatte Durchfälle. Ich musste augenblicklich zurück in die Klinik und dort eine weitere Woche verbringen. 

Eine Magen-und Darmspiegelung zeigte, dass die Schleimhäute noch stark angegriffen waren, aber glücklicherweise keine Abstoßung zu erkennen war. 

So ging es zurück nach Hause und ich begann wieder mich an Essen und Bewegung zu gewöhnen. 

 

Im Juni gab es erneut einen Zwischenfall. Über zwei Wochen hatte ich sehr starke Durchfälle, musste erbrechen und hatte nach jeder noch so kleinen Mahlzeit solche Bauchkrämpfe, dass es mir Tränen in die Augen trieb. 

In der Klinik stellte man leider schnell fest, dass es sich diesmal allerdings um eine Abstoßung über den Darm handelte. Der absolute Worst Case, der hätte eintreten können. Sofort wurde ich mit Kortison und Penicillin behandelt. 

Bereits nach der ersten Gabe fühlte ich mich sichtlich besser. Und das ist noch untertrieben: Ich sprang aus dem Krankenhausbett und hatte Kräfte wie seit Monaten nicht mehr! 

Voller Zuversicht und neuem Kampfgeist ging es nach Hause. 

Die Portionen wurden größer, die Bewegungsfähigkeit besser und die Laune-naja, dank der Tabletten wie eine große Tombola. Manchmal war ich so glücklich, dass ich durch das Haus tanzte und sang. Und nur Sekunden später war ich gereizt und so traurig und ängstlich, dass ich aus dem Nichts begann zu weinen. 

Eine große Belastung – nicht nur für mich, sondern auch für jeden Menschen der mit mir zu tun hatte. 

Den gesamten Sommer über ging es dann ständig bergauf und nach ein paar Monaten begann mein Leben wieder normaler zu werden und der Krebs trat mehr und mehr in den Hintergrund. 

 

Mitte September zog ich zurück in meine Wohnung und gewann dadurch ein weiteres, großes Stück Freiheit und Normalität. Anfang Oktober fand dann meine erste Reise nach Amsterdam statt. 

 

Der jetzige Stand 

 

Mittlerweile ist es Ende Oktober, die Blätter an den Bäumen haben sich verfärbt und fallen herunter. Und irgendwie finde ich mich selbst darin wieder. Innerhalb von gerade mal einem Jahr habe ich, ähnlich wie die Natur, so viele verschiedene Versionen, Formen und Zustände angenommen, dass es mir rückblickend wie ein schlechter Traum vorkommt. 

Erst jetzt kommt die Psyche richtig ins Spiel und lässt mich all diese Wucht der vergangenen 12 Monate verarbeiten. Das passiert teilweise in Form von Träumen, in denen das Krankenhaus vorkommt, oder Gerüchen, die aus dem nichts kommen und mich an die schlimmste Zeit erinnern und damit Ängste auslösen. 

Ich schätze, dass mein Gehirn mich vorher davor noch schützen wollte aber jetzt meint, dass es an der Zeit wäre, sich seinen Ängsten zu stellen. 

 

Aus medizinischer Sicht sieht momentan alles gut aus. Meine Blutwerte sind alle im grünen Bereich, es ist keine einzige Krebszelle auffindbar, nur mein neues Immunsystem wehrt sich ständig gegen mein altes. Das ist aber alles noch ok, und daher werde ich alle vier Wochen mit Immunglobulin versorgt. 

Auch meine Krankenhausabstände haben sich vergrößert. Ich muss nur noch alle vier Wochen in die Klinik und darf seit dieser Woche wieder Auto fahren. 

Meine Haare sind kräftig gewachsen und das Kortison verschwindet so langsam sichtbar aus meinem Körper. 

Ich sehe nach langer Zeit endlich wieder wie eine ganz normale 25-jährige aus und kann durch die Stadt laufen ohne, dass man mir meine Krankheit ansieht. 

 

 

Heute jährt sich meine Leukämie zum ersten Mal. Und ich gebe es ehrlich zu: den gestrigen Abend habe ich mit Panikattacken und einer Menge Tränen auf meinem Sofa verbracht. Es wühlt mich auf und ich habe teilweise das Gefühl, das gesamte letzte Jahr im Zeitraffer nochmal durchleben zu müssen. Ich bin so unendlich froh, dass ich hier sitzen und diese Zeilen schreiben darf. Erst gestern erfuhr ich von einer Frau, die ein ähnliches Schicksal wie mich ereilte. Sie erkrankte kurz nach mir ebenfalls an Blutkrebs und ist vor einigen Tagen leider von dieser Erde gegangen. Und da ist es wieder. Das Gefühl, das dir sagt "das hättest auch du sein können." 

Das sind die Momente in denen ich innehalte und in einem kurzen Gebet allen Menschen und Helfern danken, die dafür verantwortlich sind, dass ich weiterleben darf. 

 

Zukunftsblick

 

Zum jetzigen Zeitpunkt durfte ich noch nicht in Reha gehen, da mein Immunsystem noch nicht stark genug dafür ist und dementsprechend jeder Keim noch eine große Bedrohung für mich darstellen könnte. Wenn alles klappt werde ich aber Anfang des kommenden Jahres soweit sein. 

Damit einher geht auch das "Hunde-Verbot". Erst wenn meine Zellen einen bestimmten Wert erreicht haben, darf ich meine geliebte Laika wieder zu mir nehmen und außerdem auch wieder alles essen. Die sogenannten "Hygieneregeln" werden ab dann auch entfallen. Das bedeutet, dass ich ab diesem Zeitpunkt wieder öffentliche Verkehrsmittel nutzen und große Veranstaltungen besuchen darf.

Etwa 6 Wochen nach Ende der Reha geht es für mich zurück in meinen Job. Das sollte dann etwa ab Frühjahr 2019 der Fall sein. 

Meine Abstände in der Klinik würden ab dann auch so groß sein, dass ich nur noch etwa alle 3 Monate erscheinen müsste. 

Nach etwa 5 Jahren ohne Krebszellen spricht man dann endgültig davon, krebsfrei zu sein. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit erneut an Krebs zu erkranken höher als bei einem Menschen, der bisher keinen Krebs hatte. 

 

Letztendlich möchte ich mich ganz besonders bei Dir bedanken. Danke, dass Du mich seit kurzer, oder auch schon langer Zeit begleitest. Danke, dass du diesen Eintrag gelesen hast, das bedeutet mir sehr viel. Und danke, dass Du mir ständig den Mut gibst weiter zu kämpfen und nicht aufzugeben. Auf viele weitere gemeinsame Jahr – ohne Krebs. 

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 7
  • #1

    Uli (Mittwoch, 31 Oktober 2018 14:55)

    Gesa, wir sind alle so unsagbar stolz auf Dich!

  • #2

    Mäggie (Mittwoch, 31 Oktober 2018 17:17)

    Du bist halt eine Kämpferin! Ich bin sehr stolz auf dich und habe dich sehr lieb <3

  • #3

    Marco (Mittwoch, 31 Oktober 2018 18:59)

    Du bist und bleibst eine Kämpferin! Alles Gute für dich und deine weitere gesunde Zukunft

  • #4

    Jenny (Mittwoch, 31 Oktober 2018 19:26)

    Gesa ich bin beim Lesen dieses Blogs gefühlt den Weg mit dir gegangen...Danke dass du diese Zeilen schreibst und ich freue mich sehr für dich dass du positiv in die Zukunft schauen kannst .
    Bleib weiterhin stark und ich hoffe du kannst deine Laika bald wieder kuscheln

  • #5

    Walter Schweikert (Mittwoch, 31 Oktober 2018 21:14)

    Danke, dass du deine Erlebnisse hier teilen kannst. Es muss sehr schwer gewesen sein. Es macht mir große Freude zu sehen was für eine starke junge Frau du geworden bist.

  • #6

    Jola (Mittwoch, 31 Oktober 2018 23:59)

    Das ist so schön zu lesen, was du schon alles erkämpft hast. Und der Frühling ist gar nicht mehr weit! ich freue mich so ❤�

  • #7

    Katrin (Sonntag, 09 Juni 2019 08:41)

    Liebe Gesa, ich bin erst jetzt auf deinen Blog gestoßen und bin tief beeindruckt von Deinem Weg und Deinen Erzählungen. Sie werden mir helfen, meine Krankheit zu überstehen und powerful meinen Weg zu gehen! Thanks :)